Brief an den Trainer
Dieser Brief vom 26.01.2004 stellt eine Art
Abschlussbrief meiner Internettherapie dar. Er ist direkt an meinen
Trainer gerichtet. Bis jetzt habe ich es noch nicht geschafft,
diesen Brief tatsächlich abzuschicken.
Hallo!
Ich schreibe diesen Brief in erster Linie, um selbst Klarheit zu
bekommen, aber auch, damit du weißt, wie ich über das, was damals
passiert ist, denke. Ich bin mir fast sicher, dass du keine Ahnung
hast, wie es mir heute damit geht. Für dich war alles ganz einfach
gewesen. Wir haben drüber geredet und das war’s dann. So, sieh zu,
wie du allein klarkommst. Es hat sich nie einer darum gekümmert,
wie es mir geht. Es hat sich nie einer dafür interessiert. Und es
ist auch heute noch vielen egal. Doch ich möchte, dass du siehst,
was du in mir angerichtet hast. Du sollst in diesem Brief erfahren,
wie es mir heute geht.
Sechs Jahre waren eine lange Zeit. Zu lang, um alles einfach so zu
vergessen. Du hast Dinge getan, die du nicht hättest tun dürfen. Du
hast gewusst, dass ich es nicht wollte. Du hast mich geküsst, du
hast mich berührt, du hast mich missbraucht. Nicht einmal, nicht
zehnmal, sondern sechs lange Jahre. Und auch wenn dazwischen
größere Pausen waren, so machte es dies nicht weniger schlimm für
mich. Immer wieder die Hoffnung, dass nun alles ein Ende hat. Nur
um dann doch wieder enttäuscht zu werden. Enttäuscht von dir, nur
damit du ein bisschen Spaß haben konntest. Ich war gerade mal 15
Jahre alt, fast noch ein Kind. Du warst ein erwachsener Mann. Du
warst mein Trainer, du bist immer mein Vorbild gewesen. Bis zu
diesem einen Freitag im Sommer, einem Freitag, der nun schon bald
10 Jahre zurückliegt, doch der auch heute noch Einfluss auf mein
Leben hat.
Denn selbst heute noch fällt es mir sehr schwer, nachzuvollziehen,
wie es überhaupt dazu kommen konnte. Ich weiß, dass ich auch Fehler
gemacht habe, dass ich immer wieder den Kontakt zu dir gesucht
habe. Ich habe dir von meinen Problemen erzählt, du hast mir
zugehört. Du warst immer für mich da. Und dafür bin ich dir auch
dankbar. Aber vielleicht bin ich auch zu weit gegangen und habe
dich mit meinem Verhalten provoziert. Das war nicht meine Absicht
gewesen. Viel zu spät ist mir immer erst bewusst geworden, dass ich
soeben wieder das Falsche getan hatte, dass ich anders hätte
handeln müssen. Ich hätte vielleicht einfach mal Nein sagen sollen.
Doch ich mochte dich, nicht als Mann, sondern als Mensch. Ich
wollte dich nicht verletzen.
Aber ich weiß auch, dass den größten Fehler du selbst begangen
hast. Du hättest dich nicht darauf einlassen dürfen. Du warst viel
älter als ich, viel stärker, hattest eine Macht über mich, der ich
nicht gewachsen war. Und das wusstest du auch. Du wusstest, dass
ich nie eine Chance gegen dich gehabt hätte. Du wusstest, dass ich
dir vertraue, aber du hast dieses Vertrauen zerstört. Für immer.
Ich wusste damals nicht, warum du so etwas tust, ich konnte mir
nicht vorstellen, warum ausgerechnet ich es bin. Dennoch habe ich
immer alles ausgehalten. Ich weiß selbst nicht warum, selbst bis
heute nicht. Ich bin sogar soweit gegangen, mich am Ende freiwillig
auf dich einzulassen, in der Hoffnung, dann alles besser ertragen
zu können. Doch es ist nur noch schlimmer geworden. Selbst als ich
es endlich geschafft hatte, mich von dir loszureißen, hattest du
immer noch nicht verstanden worum es wirklich ging. Du hast mir
vorgeworfen, dich einfach so allein zu lassen. Einfach so, ohne
einen Ton zu sagen. Sollte ich mich vielleicht noch bei dir
bedanken? Dir sagen, wie toll die letzten sechs Jahre gewesen sind?
Nein, niemals. Ich war froh, dass ich es geschafft hatte. Seit dem
sind gut drei Jahre vergangen. Ich konnte es nicht verhindern, dich
trotzdem weiterhin zu sehen. Ich musste lernen, damit zu leben,
denn ich wollte nicht von einem Tag auf den anderen alles aufgeben,
nur wegen dir. Du wolltest auch nicht gehen, also warum sollte ich
es dann tun?
Das Schlimmste für mich heute ist, dass ich dich nicht einmal mehr
hassen kann, für das, was du getan hast. Du bist mir total
gleichgültig geworden. Ich habe keinerlei Gefühle mehr, wenn ich
dich sehe, weder positive noch negative. Du bist einfach nur da,
ich nehme dich zur Kenntnis, rede mit dir oder auch nicht.
Lange Zeit habe ich gedacht, es ist passiert, aber es ist vorbei.
Habe geglaubt, ich könnte damit leben, es akzeptieren. Doch für
mich ist es noch lange nicht vorbei. Für mich geht es jetzt gerade
erst los. Und es wird erst vorbei sein, wenn ich endlich so leben
kann, wie ich es gern möchte, ohne die ständigen Erinnerungen
daran, ohne die Bilder, die in meinem Kopf rumgeistern, und ohne
dass ich Angst haben muss, wenn mir jemand zu nahe kommt. Es ist
noch ein weiter Weg bis dorthin, doch selbst wenn ich es irgendwann
einmal geschafft habe, so weiß ich doch sicher, dass ich dies alles
nie vergessen werde. Wie gern würde ich einfach alles aus meiner
Erinnerung streichen. Einfach einen Schalter im Kopf umlegen und
alles wäre weg, für immer. Doch so einfach ist es leider
nicht.
Aber ich werde nicht aufgeben. Nicht jetzt, wo ich schon so weit
gekommen bin. Ich habe in letzter Zeit viele nette Menschen kennen
lernen dürfen, die mir dabei helfen werden, wieder Ordnung in mein
Leben zu bringen. Und ich hoffe, dass ich die Kraft habe, denen,
die selbst Hilfe brauchen, wiederum mit meiner eigenen Erfahrung
zur Seite stehen zu können.
Ich wünsche mir, dass ich irgendwann einmal zu mir selbst sagen
kann „Du bist nicht Schuld gewesen, sondern er!“. Auf der einen
Seite weiß ich, dass du dafür verantwortlich warst, denn du warst
der Erwachsene, nicht ich. Auf der anderen Seite ist aber immer
noch dieses Gefühl, ich hätte anders handeln können. Nicht nur,
weil es mir ständig so eingeredet worden ist, sondern auch, weil
ich immer noch davon überzeugt bin.
Ich hoffe, du kannst dir jetzt so in etwa vorstellen wie es mir
geht und wie viel Kraft es mich gekostet hat, diese ganze Zeit zu
überstehen. Ich wünsche mir, dass du begreifst, was es heute für
mich bedeutet, mit diesen ganzen Erinnerungen leben zu müssen. Aber
am allermeisten wünsche ich mir, dass ich irgendwann die Kraft
haben werde, dir Gelegenheit zu geben, diesen Brief auch
tatsächlich zu lesen.